Von einem Moment zum anderen
Heute ist wieder einer dieser Tage, an denen ich meine Mutter besonders vermisse. Vor über einem Jahr starb sie an einem schönen Spätvormittag im April an den Folgen eines Pankreaskarzinoms. Die Diagnose war erst gut zwei Monate zuvor gestellt worden. Es folgten OP, Reha, weitere CTs und Untersuchungen und die Erkenntnis, dass nichts mehr hilft.
Heute Morgen habe ich im Garten gearbeitet. Die Tausendschön sind mittlerweile verblüht und das Giersch (Teufelszeug! sagen die einen, Lecker! sagen die anderen) war im Begriff, die Herrschaft zu übernehmen. Mehrere Stunden habe ich den Schatten ausgenutzt, den bis mittags eine wunderschöne, große Rotbuche spendet. Ich rupfte und zupfte und kämpfte mal wieder mit den Dornen des Rosenstrauchs, die meinen Arm zerkratzten. Glücklich und erschöpft kam ich anschließend in die Wohnung. Mein erster Gedanke war: Jetzt rufe ich Mama an und erzähle ihr, was ich heute schon geschafft habe - nicht ohne im selben Moment von der Erkenntnis überfallen zu werden, dass das nicht mehr geht, nie wieder.
Umgang mit der Trauer
In solchen Augenblicken wird die Trauer wieder schmerzhaft, kaum auszuhalten. Was dann hilft: viel und ausgiebig weinen. Früher habe ich versucht, die Tränen zurückzuhalten, keine gute Idee. Heute “lasse ich laufen”, wie man bei uns sagt und merke, dass mit der Anzahl der vollgerotzten und -gewässerten Taschentücher der Schmerz langsam weicht.
(Was mir noch hilft: Mit meiner Schwester telefonieren! Mit den Hunden in den Wald gehen! Alte Fotos anschauen! Mario Kart spielen! Die eigenen Kinder mit Whatsapp-Nachrichten nerven! Schreiben!)
In der ersten Zeit nach dem Tod meiner Mutter waren solche Tage gar nicht oder nur sehr selten. Es ging vielmehr darum, meinen Vater nach 60 gemeinsamen Jahren mit meiner Mutter aufzufangen und dafür zu sorgen, dass er das erste Jahr ohne seine Inge übersteht. Meine Schwester und ich haben die eigene Trauer “auf später” geschoben. Eine Reflektion dessen, was im letzten Jahr und vor allem in den Monaten und Wochen davor geschehen ist, kann erst jetzt erfolgen. Manchmal kommt es mit Macht (wie heute), manchmal leise und als kleine Traurigkeit, die sich kurz zu mir gesellt und rasch wieder verfliegt.
Jetzt ist es Nachmittag, dieser Sommertag ist einfach perfekt. Ich denke mit Liebe an meine Mutter, an unsere Diskussionen, die Streitigkeiten, die innige Momente und meine späte Erkenntnis, dass ich viel von ihr in mir habe. Die Rotbuche sehe ich jetzt von der Terrasse aus, die Blätter rascheln ganz leise im Wind - so ein wunderschönes Geräusch. Ich denke an Mama und erzähle ihr in Gedanken davon.